Beim Anblick der Architektur Saigons wähnt man sich eher in Frankreich als in Südostasien. Auch die Croissants schmecken wie in Paris. Der französische Flair wirkt auf den ersten Blick sehr stimmig. Doch die scheinbar perfekt-lässige Mischung aus Ost und West entstand durch eine aggressive Kolonialpolitik. Beim Schlendern durch die geschäftigen Straßen des Großstadtdschungels gilt das gleiche Prinzip: oberflächlich wirkt alles schön - nämlich liberal und weltoffen. Doch auch das ist im kommunistischen Vietnam mehr Schein als Sein.
Bevor Sightseeing in Saigon losgehen kann, heißt es erstmal: panisch zur
Seite zu springen. Eine Hauptstraße in Saigon zu überqueren, kann eine echte Herausforderung sein. Tausende Rollerfahrer sind hier dicht an dicht unterwegs. Sie scheinen weder anzuhalten noch
auszuweichen. Irgendwann ist das Prinzip klar: Jeder macht einfach, was er will. Todesmutig laufe ich drauf los und weiche nicht aus, egal, wie nah die Roller scheinen. Es ist verwunderlich, aber
die geordnete Chaos-Theorie funktioniert wirklich: Wer ohne Hinzugucken einfach drauf losläuft, kommt unbeschadet ans Ziel. Die Rollerfahrer können besser abschätzen, wo jemand hinwill, wenn er
ohne Schlenker geradeaus läuft.
Nachdem ich das verinnerlicht habe, mache ich mich auf den Weg in die Stadt Richtung Kriegsmuseum. Es ist der erste Punkt auf der Liste von Dingen, die ich mir hier anschauen möchte. Von meinem Hostel neben dem Tao Dan Park laufe ich Richtung Museum. Es ist kurz vor Tet, dem vietnamesischen Neujahrsfest. Viele Einheimische verlassen Saigon gerade, um sich auf dem Heimweg zu ihren Familien zu machen und dort das neue Jahr einzuläuten. Die Stadt ist so bunt geschmückt, als hätte jemand an einem riesigen Knallbonbon gezogen. An jeder Ecke springt die Deko förmlich entgegen, und überall grinsen Plastikschweine.
Auf dem Weg komme ich am Wiedervereinigungspalast vorbei. Dieser hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Zunächst war er Regierungssitz der Franzosen, nach den Indochina-Kriegen zog der südvietnamesische Präsident ein. Der Palast wurde bei einem Luftangriff zerstört: die Piloten gehörten zur südvietnamesischen Armee, waren aber eigentlich auf Seite der Kommunisten. Der Palast wurde neu aufgebaut und wurde in „Unabhängigkeitspalast“ umbenannt. 1975 brachen Panzer der nordvietnamesischen Armee durch die Palastmauer. Dies besiegelte das Ende des Vietnamkrieges.
Heute steht der Wiedervereinigungspalast als Museum Besuchern offen.
Nicht weit vom Wiedervereinigungspalast liegt das Kriegsmuseum. Die Waffen, die Bilder von „Agent-Orange"-Opfern, die Foltermethoden –
all das und mehr hinterlässt einen starken Eindruck. Man kommt nicht umhin, sich zu
fragen, wie Menschen zu so grausamen Dingen fähig sind. An diesem Tag mache ich nicht mehr viel, weil das Gesehene erstmal sacken lassen
muss.
Am nächsten Tag erlebe ich dann das „schöne“ Saigon: die Kathedrale Notre-Dame, das gegenüber liegende
Postamt, das Opernhaus. Rein architektonisch gesehen sind diese Gebäude Meisterwerke. Ich komme nicht umhin, sie dafür zu bewundern. Aber bei aller
Schönheit: In meinem Hinterkopf schwebt immer der Gedanke, dass diese Gebäude auch Symbole einer aggressiven Kolonialpolitik sind. Mein Blick auf die Prachtbauen ist zwiegespalten.
Saigon schafft es also nicht ganz, dass ich ihrem allgegenwärtigen Charme verfalle. Denn ich grübele zu
sehr darüber nach, wie gezwungen diese vermeintlich lässige Mischung aus Ost und West zustande kam. Das heißt nicht, dass der Besuch der Stadt keinen Spaß macht. Im Gegenteil: Ich esse eines der
berühmten Vietnam-Baguettes, gehe in einem modernen Einkaufszentrum shoppen und und esse danach französisches Gebäck in einem Café. Besonders angetan hat es mir die Bücherstraße
neben dem Postamt –
eine Straße, die sich allein Literatur widmet. Hier kann man in aller Ruhe stöbern und schmökern. Außerdem
esse ich Pizza in der Pizzeria schräg gegenüber vom Wiedervereinigungspalast, die mir als die beste Pizza außerhalb Italiens in Erinnerung bleiben wird.
Auch die Dong Khoi, eine berühmte Einkaufsstraße, gehört zu einem Besuch Saigons mit dazu. An der Dong Khoi steht das prunkvolle Opernhaus aus Kolonialzeiten. Außerdem reihen
sich hier schicke Boutiquen und Nobelhotels aneinander. So viel westlicher Kapitalismus wirkt in der kommunistischen Stadt ein wenig paradox.
Bei all dem Genuss darf man nicht vergessen: Hinter der entspannten, weltoffenen Fassade
steht noch immer eine kommunistische Diktatur, die alle Fäden zieht. Handel? Gerne. Die Wirtschaft hat sich für den Weltmarkt geöffnet und ist rein kapitalistisch organisiert. Besonders der Export von Lebensmitteln und
Elektronik sowie der Tourismus sind wichtige Zweige in der vietnamesischen Wirtschaft, die immer weiter wächst. Aber freie politische Meinung? Nicht wirklich: Noch immer
werden in Vietnam Journalisten unterdrückt, Regimekritiker wandern unter fragwürdiger Beschuldigungen jahrelang hinter Gitter. Verständlich, dass Einheimische auf die Frage, wie sie die Politik
wahrnehmen, standardmäßig antworten: „Darüber sprechen wir nicht.“ Es ist befremdlich, dass man in Vietnam auf offener Straße Margaret-Atwood-Bücher erhält, gleichzeitig aber nicht frei
über Politik sprechen kann. Das Bild von Saigon ist trügerisch.
Zwei Tage verbringe ich also damit, Saigon anzuschauen. Ist die Stadt einen Besuch wert? Keine Frage. Sie
ist etwas chaotisch, etwas laut, und die pittoreske französische Architektur wirkt fast schon ein wenig fehl am Platz in dem Gewusel. Die Stadt vereint zwei Welten – in jeder Hinsicht. Sie bietet
ein erstklassiges Bildungsangebot über die ernste Geschichte des Landes. Aber auch die leichten Dinge des Lebens genießt man in Saigon ohne Probleme in den vielen Restaurants, Cafés oder
Einkaufsstraßen.
Doch genau wie die Bauwerke aus der Kolonialzeit muss man auch den wirtschaftlichen Liberalismus mit Vorsicht betrachten. Vietnam ist durch das streng kommunistische Regime noch weit davon
entfernt, frei zu sein. Dies sollte man bei einem Besuch der Stadt immer im Hinterkopf behalten. Ob der Spagat zwischen kapitalistischem Handel und kommunistischer Politik weiterhin gut laufen
wird, ist fraglich. Es bleibt spannend, wie sich die Stadt in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wird.