Die Großregion bietet die perfekte Kulisse für einen schaurig-schönen Herbsturlaub. Ihre nebelverhangenen Burgen und mystischen Moore wirken wie aus alten Sagen und Spukgeschichten entsprungen. Eine Reise zur Mittelalterburg Vianden und der wilden Urzeitlandschaft „Hohes Venn“.
Mein Herbst-Urlaub in der Großregion startet an einem Donnerstagnachmittag: Es wird ein langes Wochenende. Mit dem Zug geht es Richtung Luxemburg. Gezahlt habe ich das Ticket nicht – praktischerweise sind im Großherzogtum alle öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos.
Ich lasse Luxemburg-Stadt hinter mir. Es werden noch andere Gelegenheiten kommen, die Hauptstadt zu erkunden. Mich zieht es an diesem langen Wochenende in den Norden des Landes, nach Vianden.
Ich möchte dort in den Ardennen wandern. Vor allem aber möchte ich mir die Burg von Vianden anschauen: Sie war tatsächlich schon Drehort eines Horrorstreifens, nämlich des Vampirfilms „Shadow of the vampire“.
Es ist bereits Abend, als ich im Hotel ankomme. Es liegt unweit der Burg, die über dem kleinen Örtchen thront – jetzt im Dunkeln sehe ich nichts außer ihrer nachtschwarzen Silhouette und den Umrissen ihrer Türme, die in den mondlosen Himmel ragen. Unwillkürlich denke ich an ein Tier, das sich im Dunkeln zusammengekauert hat.
Hinter dem Tresen der Rezeption sitzt ein älterer Herr. „Wëllkomm“, sagt er auf Luxemburgisch, bevor er auf Französisch weiterspricht. Der Schlussatz ist dann auf Deutsch: „Wir hoffen, Sie haben einen angenehmen Aufenthalt bei uns.“
Nachts heult der Wind um das Hotel und lässt die Fensterläden meines Zimmers klappern. Regen prasselt gegen die Scheiben. Von meinem Zimmer sehe ich die Burg, die auf mich wartet – sie verschwimmt ein bisschen im Regen. Ich schließe die Vorhänge.
Am nächsten Morgen hüllt Nebel die Türme der Burg ein. Der Dunst reicht bis runter zu der Pforte des Hotels. Ich trinke meinen Kaffee im Essensraum, der direkt neben der Rezeption liegt. Eine Stunde später hat sich der Frühnebel verzogen. Tatsächlich durchbricht die Sonne die Wolkendecke und ich sehe die Burg zum ersten Mal ganz deutlich. Imposant und herrschaftlich erhebt sie sich vor mir, buntes Herbstlaub hebt sich vor ihren Türmen ab.
Nachdem ich mein Ticket und meinen Audioguide behalt habe, durchquere ich die Pforte zur Burg. Im ersten Raum warten Ritterrüstungen und eine Schatztruhe. Ihr Schließmechanismus wirkt so komplex, dass man verstehen kann, wieso die Burgherren guten Gewissens ihr Gold darin aufbewahrten. „Ein besonders aufwendiger Schließmechanismus sprach für einen besonders guten Schlosser“, erklärt die Stimme des Audioguides. „Übrigens: Der Ausdruck ‚auf den Hund gekommen‘ stammt aus dem Mittelalter. Oft wurden die Böden der Schatztruhen mit zähnefletschenden Hunden bemalt. Sie sollten den Besitzer der Truhe davor warnen, zu viel Geld aus der Truhe zu nehmen.“ Ich luge in die Truhe – kein Hund. Der Besitzer dieser Truhe hatte eine solche Warnung offenbar nicht nötig.
Vianden gehörte im Mittelalter schließlich auch den reichsten und mächtigsten Grafen zwischen Rhein, Mosel und Maas. Sie zählt zu den schönsten europäischen Mittelalterburgen. Kaum zu glauben,
dass sie vor knapp 200 Jahren in Einzelteilen versteigert wurde. Glücklicherweise kaufte der Staat Luxemburg die Burg in den Siebzigern wieder zurück und restaurierte sie aufwendig.
Ich setze meinen Rundgang fort und laufe vorbei an mittelalterlichen Kanonen und weiteren Waffen: Speere und Keulen –
und ihren Gegenstücken, den rasselnden Kettenhemden, die vor Angriffen schützen sollten.
Wenig später betrete ich den prachtvollsten Raum der Burg: Die zehneckige Burgkapelle. Ihre symmetrischen Kuppeln und Bögen fügen sich harmonisch in die Burg ein. Nicht nur ihre Formen, auch ihre Erdfarben lassen sie besonders ästhetisch wirken: Ocker, Blau und Gelb bilden ein schönes Farbenspiel. Sie besteht aus zwei Teilen – im unteren lauschten die Herren Grafen der Messe, in der oberen Kuppel saß das „gemeine“ Volk.
Nachdem ich die Galerie mit ihren offenen Kleeblatt-Fenstern durchquert habe – „eher untypisch für Burgen in Mitteleuropa, man findet solche Architektur sonst eher in wärmeren, mediterranen Raum“ – gelange ich in die Wohnräume. Die Holzdielen knarzen, als ich die Räume mit ihren aufwendig verzierten Wandteppichen und den alten Schränken durchquere. Die schweren Kronleuchter bringen den Raum und seine verschiedenen Holzarten schwach zum Glimmen. Es ist die mittelalterliche Dracula-Atmosphäre schlechthin.
In einem der Schlafräume steht ein rosafarbenes Bett neben einer dunklen Holztruhe: „Dieses Bett ist ungewöhnlich lang. Im Mittelalter pflegte man im Sitzen zu schlafen, weshalb die Betten eher kleiner gehalten wurden.“ Die Person, die hier schlief, schien es gemütlich zu halten.
Im Festsaal macht mich der Audioguide auf eine Blume oberhalb der Tür aufmerksam: „Ein Symbol, das daran erinnern sollte: Egal, was passiert – es bleibt alles in diesem Raum.“ Es ist leicht, sich
eine Gruppe feierwütiger Ritter vorzustellen, die mit schäumenden Bierkrügen anstießen – besonders angesichts der Bierfässer, die in dem Burgkeller lagern.
Mein Besuch der Burg neigt sich dem Ende zu. Eins ist sicher: Ihren Ruf als eine der schönsten Burgen in Europa hat sie auf jeden Fall verdient.
Ich breche am nächsten Tag auf, zu einer Wanderung nach Burg Falkenstein. Es geht immer am Fluss Our entlang, bis ich auf der rechten Uferseite einem steilen Waldweg folge. Ein Teppich aus bunten Blättern bedeckt den Waldboden. Pilze ragen überall aus der Erde: Der Herbst zeigt sich von seiner schönsten Seite.
Schließlich komme ich an Burg Falkenstein an. Die verwitterte Burg liegt mitten im Wald. Anders als Vianden ist sie in Privatbesitz und kann nicht besichtigt werden. Aber auch von außen macht die Burg einen schaurig-schönen Eindruck.
Etwas oberhalb der Burg wartet ein grandioser Aussichtspunkt über die Ardennen und die Our, die in Schleifen ihren Weg durch die sanft abfallenden Berge bahnt. Auch Burg Falkenstein erspähe ich von dort oben.
Auf dem Rückweg komme ich vorbei an Rindern, deren orangenes Fell sich vor dem bunten Herbstlaub im Hintergrund abhebt. Schön sind sie, die Ardennen.
Ich lasse Vianden hinter mir und breche auf nach Eupen in Belgien. Die Stadt liegt am Rande von Europas letztem Hochmoor. Die Verlassenheit und Weite des herbstlichen Sumpflandes scheinen perfekt, um Corona mal kurz zu entgehen. Immer öfter lese ich die Worte „Tundra“ und „Heideland“ im Zusammenhang mit Eupen.
Mein erster Gedanke, als ich in Eupen ankomme: Billy Elliot. Die Backsteinhäuser des Städtchens erinnern mich stark an den Schauplatz des Films, das fiktive Everington. Und da ich den Film immer schon mochte, ist Eupen mir direkt sympathisch.
Am nächsten Tag starte ich meine Tour am Haus Ternell, dem Eupener Ausgangspunkt für Wanderungen im Moor. Ich habe mir die knapp 20 Kilometer lange Genusstour ausgesucht.
Es nieselt, als ich aufbreche. Nebel wabert durch die dicht stehenden Bäume des Hertogenwalds. Das Rot von dutzenden Fliegenpilzen leuchtet im nassdunklen Moos.
Am Fluss Hill überquere ich eine Brücke laufe bergauf. Ich versinke bis zu den Knöcheln im Herbstlaub. So pflüge ich durch diesen dicken Teppich aus Laub, bis ich aus dem Wald heraus in die Hochebene trete.
Erster Eindruck: Die Landschaft steht in Flammen. Rechts und links vom Weg erstrecken sich Farne und Moorgräser. Jetzt im Herbst sind sie orange verfärbt. Das Bild erinnert an extreme Landschaften - nicht nur an die nordische Tundra. Trotz Nieselregen und 10 Grad denke ich unwillkürlich an Grasfeuer in der afrikanische Savanne. Die völlig kahlen, knorrigen Bäume, die vereinzelt aus den Pflanzen ragen, unterstreichen diesen Eindruck noch. Zusätzlich sprießen alle paar Meter feuerrote Fliegenpilze aus der Erde.
Je weiter ich ins Hohe Venn fortschreite, desto mehr verstärkt sich das Bild einer flammenden Landschaft. Vereinzelt unterbrechen lila Tupfer aus Heidekraut die herbstlichen Gräser. Auch dunkelgrüne Fichten heben sich ab vom endlosen Orange. Ein starker Wind pfeift über die Hochebene. Ganz plötzlich legt er sich – es breitet sich eine hörbare, fast gespenstische Stille aus, wie es sie nur in völlig menschenverlassenen Landschaften gibt.
Ich gelange ins „Königliche Torfmoor“. Lange Stege, deren Endpunkte nicht sichtbar sind, liegen zwischen den Gräsern und dem Heidekraut. Auf den Infoschildern erfahre ich mehr über diese ursprüngliche Landschaft: Die Hochmoore des Hohen Venns entstanden vor etwa 10.000 Jahren zum Ende der letzten Eiszeit. Diese raue, karge Fläche wurde im Laufe der Zeit kaum besiedelt. Im 19. Jahrhundert dann begann Belgien, im Hertogenwald Fichten aufzuforsten, ähnlich wie im Schwarzwald. Das schnell wachsende Holz der Fichten war sehr begehrt, genauso wie der Torf als Brennstoff.
Das Gebiet wurde entwässert, um Fichten anzupflanzen und Torf abzubauen. So ging die Moorvegetation immer mehr das zurück: Die Moosdecke und andere Pflanzenarten verschwanden, das Pfeifengras breitete sich aus. Seit knapp vierzig Jahren werden die Gebiete wieder entfichtet und dem Moor künstlich Wasser zugeführt: Das Moor soll sich regenerieren und die Vegetation zurückkehren.
Meine Wanderung neigt sich dem Ende zu. Ich bin ein wenig überrascht, als ich diese urzeitliche Wildnis verlasse und tatsächlich eine Straße finde. Mein langes Herbstwochenende ist fast vorbei. Ein bisschen fühlt es sich so an, als hätte ich die Tundra und Schloss Bran erkundet – mitten in der Benelux-Union.